Die Bedeutung des Ungewissen in der Psychosomatik

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Im Gespräch mit Hanne Seemann

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Hanne Seemann ist Diplom-Psychologin, approbierte psychologische Psychotherapeutin und seit vielen Jahren in eigener Praxis tätig. Sie ist eine echte Koryphäe im Bereich der Psychosomatik und hat uns in unseren gemeinsamen Wochen und Monaten fachlich wie menschlich wahnsinnig beeindruckt. Wir empfehlen, sich für dieses etwas längere Interview einen Moment der Ruhe und eine Tasse Lieblingstee zu gönnen:

Wir führten ein Gespräch mit Maja Storch über den Umgang mit dem Ungewissen. Auch Dir ist dieses Thema gerade ein besonderes Anliegen, warum?

Maja Storch hat diesbezüglich schon sehr wichtige Sachen gesagt, an die ich gerne anschließen möchte, da ich in meinem Arbeitsgebiet ganz klare Parallelen erkenne zwischen der Ungewissheit, die aktuell durch die Corona-Situation ausgelöst wird, und der Unsicherheit, die entsteht, wenn jemand an einer psychosomatischen Störung leidet.

Menschen mit psychosomatischen Beschwerden können sich oftmals nicht an einer konkreten Diagnose orientieren. Sie geraten dann in eine Situation von großer Unsicherheit und Ungewissheit; auch in Bezug auf ihre Zukunft. Die psychosomatische Störung lässt einen nicht mehr so weiterleben wie bisher. Da haben wir etwas Analoges zu unserer jetzigen Corona-Situation.

Die Kontrolle über die Gesamtsituation scheint abhandengekommen zu sein. Einen ähnlichen Kontrollverlust kann ich auch bei meinen Patienten beobachten. Einige können das nur sehr schlecht aushalten, denn sie sind es gewohnt, ihr Leben und auch ihren Körper im Griff zu haben.

Wenn einen der Körper im Stich lässt, kann das zum Beispiel bedeuten, dass er sich einfach weigert, seinen Dienst zu tun und sich dies in körperlichen Schmerzen äußert. Wenn der Körper aufhört zu funktionieren und sich auch jeglicher Kontrolle entzieht, weiß man das meist nicht einzuordnen.

Besonders Menschen, die es gewohnt sind, alles immer im Griff zu haben oder ein großes Kontrollbedürfnis besitzen, sind sowohl in der Corona-Situation als auch im Falle einer psychosomatischen Erkrankung besonders schlimm dran, denn ihre Weltordnung gerät aus den Fugen. In meiner Praxis brauche ich dann sehr lange, um ihnen aufzuzeigen, dass viele Dinge des Lebens - und besonders die wichtigen - sich nur sehr schlecht oder gar nicht kontrollieren lassen.

Was ist diesbezüglich ein grundlegender Ansatz Deiner Beratungen?

Die Zukunft ist offen. Aber sie ist nicht leer! Die große Chance ist es, die Zukunft für das zu öffnen, was kommen könnte, was man sich erträumen oder wofür man sich begeistern kann. Diese Begeisterung ist ausgenommen wichtig für den Kopf. Man sollte sich schöne Zukunftsbilder ausmalen, denn das Glück begünstigt den vorbereiteten Geist - das Unglück übrigens auch.

Viele beäugen gerade nach langer Krankheitsgeschichte den Körper misstrauisch und stempeln ihn für krank ab, weil er seine Aufgaben nicht mehr wie gewohnt zu erfüllen scheint. Es wird ein düsteres Zukunftsbild kreiert, was dem Körper gegenüber eigentlich sehr unfair ist und zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden kann.

Es ist für mich eine wichtige Aufgabe in der Therapie von psychosomatischen Störungen, dass die Menschen lernen, von ihren negativen Eigensuggestionen abzulassen. Sie sollen sich daran erinnern, was früher schön war, was man geliebt hat, wo man sich gut gefühlt hat. Und das gilt es als Wunsch in die Zukunft zu transportieren. Es wird nicht wieder so wie früher, aber es wird gut und das ist eine Prophezeiung, die man dem eigenen Körper und der eigenen Seele auch machen muss.

Hast Du ein Beispiel dafür, welches Bild eine konkrete Unterstützung für Deine Patientinnen und Patienten darstellen kann?

Nicht nur psychosomatisch kranke Menschen erholen sich in der Natur sehr gut. Hier hat man auch eine Analogie: Die Natur, so sehr man sie auch ruiniert hat oder der Körper, so sehr man ihn vielleicht auch versklavt und geschunden haben mag, erholen sich eigentlich immer dann, wenn man sie in Ruhe lässt.

Viele Menschen entwickeln draußen eine Ruhe und die Zuversicht, dass man sich darauf verlassen kann, dass die Natur schon ihre Wege geht, obwohl sie immer wieder Sachen macht, mit denen man nicht gerechnet hat.

Und insofern hat bei aller Veränderung die Natur ein ganz hohes Maß an Verlässlichkeit, an die wir andocken können. Auf den Winter wird immer der Frühling und darauf der Sommer folgen. Und ich erinnere mich an frühere Zeiten, in denen ich mit meiner Familie im Sommer regelmäßig in den Süden gefahren bin und die Kinder vom Rücksitz her geschrien haben: das Meer, das Meer. Und der Vater sagte dann jedes Mal: Ja, das ist so etwas, worauf man sich verlassen kann, denn egal wann man wiederkommt, ist es immer noch da. ­

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Gibt es aus Deiner Sicht etwas, was wir aus der aktuellen Krise lernen können?

Es gibt so einen alten klugen Satz: “Tempora mutant, mutamur in illis" - die Zeiten ändern sich und wir uns mit ihnen. Eigentlich meint das, dass die Zeit uns verändert. Wenn sich jemand den Veränderungen, ob nun auf geistiger oder körperlicher Ebene, widersetzt und einfach so weitermachen will wie bisher, wird das nur mit sehr viel Mühe gelingen. Etwas im Inneren wird versuchen, sich dagegen zu wehren.

Alles stagniert, ist blockiert, wie eben auch jetzt in der Corona-Krise, die quasi erhebliche Veränderungen im Lebensablauf eines jeden erzwingt. Aber es gibt gar nicht Wenige, die über die Länge der Zeit zu einer neuen Haltung gefunden haben, mehr Nähe zu sich selbst und mehr innerer Ruhe, die sie beibehalten wollen.

Ich finde, wir haben jetzt alle die Chance, aus dieser Zeit verändert hervorzukommen, wie das ja auch immer bei überstandenen Krankheiten und Krisen der Fall ist.

Vielen Dank für Deine Worte, liebe Hanne!

In Ihrem ausführlichen life lessons Kurs Psychosomatik mit 7 Praxisfällen vermittelt Hanne Seemann ihr ganz persönliches Verständnis psychosomatischer Störungen und zeigt Schritt für Schritt ihren beraterischen Ansatz in der Praxis. Zeitgleich sind ihre life lessons eine lebensphilosophische Bereicherung für jedermensch.

In ihrem Workshop Migräne in der Psychosomatik vermittelt Hanne Seemann kompaktes Grundlagenwissen zu Hintergründen, Auslösern und Verlauf eines Migräneanfalls aus Sicht der Psychosomatik. Im ausführlichen Praxisfall demonstriert sie, wie eine Beratungssitzung zum Thema Migräne bei ihr aussieht. Dieser Workshop ist Teil des life lessons Workshops-Abos für 49€ /Jahr.

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